Unwort des Jahres 1998:
»sozialverträgliches Frühableben«
Zum Unwort des Jahres 1998 hat eine sechsköpfige Jury, bestehend aus Sprachwissenschaftlern und Fernsehjournalisten, die Formulierung »sozialverträgliches Frühableben« gewählt. Diese Wortschöpfung wurde im Dezember 1998 vom Präsidenten der Bundesärztekammer, Karsten Vilmar, geprägt, als er Sparpläne der neuen Bundesregierung kritisieren wollte. Dabei hat er in mindestens zweifacher Hinsicht die Seriosität einer offiziellen Stellungnahme verfehlt: zum einen in der Umschreibung eines vorzeitigen Todes durch »Frühableben«, zum anderen in der Verbindung mit dem Wort »sozialverträglich«, das schon durch seinen Mißbrauch in anderen Fällen eigentlich unbenutzbar erscheinen müßte. Kommt hinzu, daß Vilmar - wenn auch in ironischer Absicht - formuliert hat, Ärzte müßten sich überlegen, ob sie den vorzeitigen Tod von Patienten »fördern« müßten. Hier schlägt Ironie und Satire endgültig in blanken Zynismus um, der eines Sprechers der Ärzteschaft unwürdig ist und seine Stellungnahme zur Äußerung eines kalten Standesegoismus abwertet.
Zwei weitere von der Jury gerügte Unwörter entstammen ebenfalls dem unangemessenen öffentlich-sprachlichen Umgang mit Menschen:
»Belegschaftsaltlasten« und »Humankapital«.
»Belegschaftsaltlasten« meint Mitarbeiter, die ein Betrieb gern wieder loswerden möchte. Das Wort ist ein weiterer Beleg für die um sich greifende Anwendung von Abfallmetaphern auf Menschen. Es wurde vom Genfer Betriebswirt Michael Schmilinsky in einem taz-Interview vom 24.1.1998 verwendet.
»Humankapital« ist im gerügten Zusammenhang eines ZEIT-Aufsatzes vom 2.4.1998 von Albrecht Schmidt, Chef der Bayerischen Vereinsbank, nicht mehr nur als abstrakte betriebswirtschaftliche Größe gebraucht worden, sondern als Bezeichnung von Kindern.
Schließlich hat die Jury auch die Wortbildung
»Moralkeule«
in der Paulskirchen-Rede von Martin Walser gerügt. Mit dieser Rüge ist keine Stellungnahme im Streit um diese Rede verbunden, wohl aber die Verwunderung, daß ein so sprachsensibler Autor wie Walser den positiv besetzten und schützenswerten Begriff »Moral« mit einem Totschlaginstrument, einer »Keule«, in sprachlich engste Verbindung bringen konnte.
(Weitere Erläuterungen können angefordert werden.)
Die jüngste Unwort-Suche war die achte seit 1991. Diesmal haben sich bis zum Einsendeschluß (8.1.1999) 1.138 Personen aus allen Bevölkerungsschichten des deutschsprachigen Raums, aber auch aus dem weiteren, teilweise sogar überseeischen Ausland (u.a. Thailand) mit 836 verschiedenen Vorschlägen beteiligt.
Der diesjährigen Jury gehörten an die Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Albrecht Greule (Regensburg), Frau Prof. Dr. Margot Heinemann (Görlitz-Zittau), Prof. Dr. Rudolf Hoberg (Darmstadt) und Prof. Dr. Horst Dieter Schlosser (Frankfurt a.M.) sowie als kooptierte Mitglieder die Fernsehjournalistin Dr. Luc Joachimsen (Frankfurt a.M., hr/ARD) und der Fernsehjournalist Reinhard Appel, Bonn (vormals ZDF).
1991 begründete jährliche Rüge von sprachlichen Fehlgriffen in der öffentlichen Kommunikation auf der Basis von Vorschlägen aus der gesamten deutschsprachigen Bevölkerung (s. Satzung).
Entfernt vergleichbar ist die (ältere) US-amerikanische Aktion "Doublespeak Award", in der ebenfalls ein verfehlter öffentlicher Sprachgebrauch jährlich negativ ausgezeichnet wird; zum Presenter of the Doublespeak Award, Prof. Dr. William Lutz (Ruttgers University, New Brunswick), bestehen persönliche Kontakte.
Bis 1994 wurde das "Unwort des Jahres" im Rahmen der Gesellschaft für deutsche Sprache gekürt; nach einem Konflikt mit dem Vorstand dieser Gesellschaft um die Rüge der Kanzlerformulierung "kollektiver Freizeitpark" (für 1993) hat sich die Jury als "Sprachkritische Aktion >Unwort des Jahres<" selbständig gemacht.
Vorschläge werden während des ganzen Jahres entgegengenommen, die intensive Sammelphase liegt aber jeweils zwischen Oktober und Anfang Januar. Dann fällt die Entscheidung in einer Sitzung der Jury und wird über die Medien bekanntgegeben.
Die Satzung
Die Unwörter 1991-1997
Das aktuelle Unwort und die Begründung der
Jury
Die Jury-Mitglieder
Publikationen
Die Ergebnisse der Unwort-Wahlen für 1991-93 sind jeweils in "Der Sprachdienst", hrsg. von der Gesellschaft für deutsche Sprache, veröffentlicht worden (Jahrgänge 1992, 1993, 19994), eine Zusammenfassung bis 1995 in: "Der Sprachdienst" 1996, S.47-58.
Ein Rückblick auf die bisherigen Aktionen erscheint im Herbst 1998 in der Würzburger Universitätszeitung unter dem Titel "Unding oder Unwort?" (Vortrag im Rahmen des Würzburger Studium generale vom 10.2.1998).
Der Konflikt mit dem Bundeskanzleramt und mit dem Vorstand der Gesellschaft für deutsche Sprache 1994 dokumentiert bei:
Unwörter des Jahres 1991-1997
Fettgedruckt ist das jeweilige "Unwort des Jahres", die übrigen
sind als "weitere Unwörter" ebenfalls gerügt worden. (Die in
Klammern stehenden Angaben sind nur verkürzte Wiedergaben der offiziellen
Begründungen)
* ausdrücklich mit Blick auf besondere Aktualität in den östlichen Bundesländern als Belege "sprachlicher Demütigung" gewählt.
1. Grundsätze der Aktion "Unwort des Jahres"
Die Aktion "Unwort des Jahres" will für mehr sachliche Angemessenheit und Humanität im öffentlichen Sprachgebrauch werben. Zu diesem Zweck sollen jährlich einzelne Wörter oder Formulierungen aus der aktuellen öffentlichen Kommunikation, welche die Erfordernisse sachlicher Angemessenheit und humanen Miteinanders besonders deutlich verfehlen, öffentlich gerügt werden. Dabei wird der deutlichste sprachliche Mißgriff als "Unwort des Jahres" gekennzeichnet, aber auch weitere Wörter und Formulierungen können als "Unwörter" gerügt werden. In Betracht kommen alle Felder der öffentlichen Kommunikation (Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Wissenschaft...). Die Rügen verstehen sich in erster Linie als Anregung zu mehr sprachkritischer Reflexion. Eine Zensurabsicht liegt der Aktion fern. Für die Aktion ist wesentlich. daß jeweils die ganze Sprachgemeinschaft aufgerufen wird, sich an der Unwort-Wahl zu beteiligen. Jeder Bürger und jede Bürgerin kann Vorschläge machen.
2. Verfahren der Unwort-Wahl
2.1 Die Entscheidung über das "Unwort des Jahres" und weitere "Unwörter" trifft eine Jury. Diese besteht aus vier ständigen Mitgliedern, durch germanistische Ausbildung oder Tätigkeit ausgewiesene Sprachwissenschaftlern oder Sprachwissenschaftlerinnen, und zwei jährlich neu zu kooptierenden Mitgliedern, die einen Bereich der öffentlichen Sprachpraxis (z.B. Medien, Kulturinstitutionen, Politik, Verbände) vertreten. Diese Zuwahl sowie die Ersetzung eines ausscheidenden ständigen Mitglieds werden unter den ständigen Mitgliedern einvernehmlich geregelt. Geschäftsführende Aufgaben nimmt ein Sprecher oder eine Sprecherin der Jury wahr.
2.2 Durch einen öffentlichen Aufruf jeweils im Herbst eines Jahres wird um Einsendung von möglichen Unwörtern gebeten, die im Laufe des zurückliegenden Jahres eine gewisse öffentliche Bedeutung erlangt haben. Eine Quellenangabe sollte vermerkt sein.
2.3 Unmittelbar nach dem Einsendeschluß, der spätestens zwei Wochen nach dem Jahreswechsel sein soll, legt der Sprecher/ die Sprecherin den übrigen Juroren eine Aufstellung aller eingesandten Vorschläge vor. Dabei wird bereits eine grobe Vorsortierung vorgenommen, die sich an den Kriterien der Unwortwahl ("aktuell" - "sachlich grob unangemessen" - "inhuman") orientiert. Soweit die Vorschlage Begründungen enthalten, werden diese der Aufstellung beigefügt.
2.4 Die Entscheidung über das "Unwort des Jahres" und weitere "Unwörter" wird nicht von der Zahl der Unterstützer eines Vorschlags (die manipuliert werden könnte) abhängig gemacht. Sie erfolgt ausschließlich nach inhaltlichen Kriterien.
1991
ständige Mitglieder
1. Dr. Hans Bickes, Geschäftsführer der Gesellschaft für
deutsche Sprache (GfdS), Wiesbaden
2. Prof. Dr. Albrecht Greule, Universität Mainz (später Regensburg)
3. Prof. Dr. Rudolf Hoberg, Technische Hochschule Darmstadt
4. Prof. Dr. Horst Dieter Schlosser, Universität Frankfurt am
Main
kooptierte Mitglieder:
5. Dr. Frolinde Balser, Frankfurt a.M. (vorm. MdB/ SPD)
6. Prof. Dr. Herbert Heckmann, Deutsche Akademie für Sprache und
Dichtung, Darmstadt