Vortrag zum 4. Österreichischen Zeitgeschichtetag in Graz vom 27.-29.05.99

Grenzen der Globalisierung: Die Gebundenheit von Raum und Zeit im Internet

von Christian Stegbauer

Mit den neuen internetbasierten Medien verbinde sich die Aufhebung von Grenzen, insbesondere die raumzeitliche Verknüpfung mit sozialen Bindungen sei betroffen, so der viel vernehmbare Tenor zahlreicher Beiträge zu diesem Thema. Die hier vertretene These besagt, daß die raumzeitlichen Bindungen keineswegs aufgehoben werden, an mindestens drei Ebenen der Verknüpfung läßt sich zeigen, daß die Gebundenheit von Raum und Zeit bestehen bleibt. Bei den drei Ebenen handelt es sich um eine logistische, eine soziale und eine zeitliche Verbindung zwischen Internetkommunikation und physischer raumzeitlicher Bindung.

Die Bedeutung von Kommunikation

Ein Teil der Globalisierungsdynamik wird durch die grenzenlose Kommunikation per Internet erklärt. Dies wird beispielsweise verständlich, wenn man aus einer radikal entsubjektivierten Perspektive behauptet, daß Organisationen und Institutionen, ja die gesamte Gesellschaft aus nichts anderem als aus Kommunikation bestehe, wie etwa Luhmann (1989) dies etwas verkürzt darstellt. Eine Änderung der Kommunikationsmedien sei also ein Wandel, welcher die gesamte Gesellschaft im Mark treffe. Neue Medien, seien damit auch in der Lage gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen.

Da Kommunikationsmedien eine solch enorme Bedeutung zukommt, sollen zunächst einmal einige Charakteristika von Medien beschrieben werden. Medien helfen den Raum zu überbrücken und ermöglichen damit Kommunikation und das bedeutet Vergesellschaftung. Wäre die Kommunikation nicht medial vermittelt würde sie die eigene vielleicht beschwerliche und lange dauernde Anreise nötig machen. Diese Funktion, der Überbrückung von "Zwischenräumen" zeichnet alle Medien aus. Das Potential der internetbasierten Medien geht aber noch einen Schritt weiter, sie schaffen eigene Kommunikationsräume.

Galt bis vor einigen Jahren die schon von Georg Simmel (1992: 690) beschriebene Ausschließlichkeit von Räumen, nach der es nur einen einzigen allgemeinen Raum gibt, und "von dem alle einzelnen Räume Stücke sind," so wurde diese Beschränkung hinsichtlich des Entstehens virtueller Kommunikationsräume weitgehend aufgehoben. Während noch heute Kriege um den einen und einzigen Realraum geführt werden, ist die Möglichkeit der Vermehrung virtueller Räume annähernd grenzenlos. Virtuelle Räume entstehen durch interaktive Medien - so etwa Chatrooms, diese tragen den Raumbegriff ja bereits im Namen - die Metapher betrifft aber auch Newsgroups und Mailinglisten, letztlich könnte man auch das WWW einbeziehen.

Virtuelle Räume können als Sozialräume im Sinne von Leopold von Wieses Grundkategorie des sozialen Raumes aufgefaßt werden. Nach Leopold von Wiese (1968: 110 ff) ist "der soziale Raum das Universum, in dem sich die sozialen Prozesse abspielen." Mit "sozialen Prozessen" ist unter anderem die Herstellung von Sozialbeziehungen gemeint, denen die Aushandlung gemeinsamer Werte und Normen folgt. Von Wiese verstand unter sozialem Prozeß in erster Linie soziale Distanzveränderungen zwischen den Menschen. Er war in seinem zuerst 1924 erschienenen "System der allgemeinen Soziologie" auf eine strikte Trennung des physischen Raumes vom sozialen Raum (von Wiese 1968: 110) bedacht.

Mit Hilfe der Internetmedien entstehen soziale Räume unabhängig vom physischen Raum. Die Frage ist aber, inwiefern Sozialraum und physischer Raum als unabhängig voneinander denkbar sind. Ich folge von Wiese in dem Gedanken, daß gerade angesichts eines scheinbaren Verschwindens von trennendem Raum für die Dauer der Analyse die physische Ebene von der Sozialsphäre getrennt werden muß. Dennoch dürfen bei einer solchen Trennung die Verbindungen zwischen beiden Ebenen nicht aus dem Blickfeld geraten. So muß beispielsweise gefragt werden, in welcher Weise der Sozialraum mit dem physischen Raum verbunden ist, welche dieser Bindungen lösbar sind, und wo unhintergehbare Hindernisse einer Auflösung entgegenstehen.

Neben Distanzveränderungen zwischen Menschen in sozialen Prozessen, findet man auch die Entwicklung von Normen und Werten in interaktiven computerbasierten Medien. In der Folge gehört hierzu aber auch eine Aufteilung, ein Ausfüllen des Sozialraumes indem die Akteure unterschiedliche Rollen übernehmen. Gelingt es solche Prozesse innerhalb der virtuellen Sphäre in Gang zu setzen, kann der internetbasierte Sozialraum nicht mehr geographisch verortet werden. Ein solcher Prozeß wäre also gleichbedeutend mit einer Ablösung zwischen Realraum und Sozialraum. Genau solche Abläufe (Entwicklung von Normen, Ausprägung von Rollen) kennzeichnen auch die sozial ausgefüllten Realräume. Insofern scheint es gerechtfertigt von "Kommunikations-" bzw. "Sozialräumen" bei Betrachtung der internetbasierten Medien zu sprechen. Das Argument dieses Beitrags besagt jedoch, daß die physische Rückgebundenheit des realräumlichen Kontextes sich trotzdem nicht außer Kraft setzen läßt.

Das Verschwinden von Raum und Zeit

Betrachtet man allein die technischen Eigenschaften der virtuellen Sphäre, dann sind praktisch keine Unterschiede hinsichtlich der physischen Distanzen festzustellen. Dies meint, daß egal von wo aus ein Teilnehmer Zugang erhält, keinerlei Unterschiede in der Erreichbarkeit zu finden sein dürften. Damit scheinen Grenzen, die im realen Raum extrem bedeutsam sind und Sozialität strukturieren, eingerissen zu sein. Inwieweit der Realraum nichtmedial hergestellte soziale Beziehungen durch räumliche Nähe, bzw. funktionale Nähe mitbestimmt, wurde beispielsweise von Festinger et al. (1950) nachgewiesen. All das, was in dieser klassischen Studie über die Strukturierung von Beziehungen und Attitüden anhand der Verteilung von Häusern, Wohnungen und deren Zugänge in einer Studentensiedlung herausgefunden wurde, gilt nicht für virtuelle Räume.

Jedoch lassen sich Analogien herstellen: Die Schaffung virtueller Städte mit virtuellen Einkaufsmeilen; der Treffpunkt einer populären Webseite, die in unterschiedliche Sozialräume verzweigt; die Einstiegsseite, die eine Auswahl des Möglichkeitsuniversums vorstellt: all dies stellt auf eine virtuelle Weise Nähe her. Gerät man mehr oder weniger gewollt auf eine solche Internetseite, ist die Entfernung zu einem sich von dort abzweigenden Sozialraum lediglich einen Mausklick entfernt. Es ergeben sich vertraute Bereichen, die auch anderen Teilnehmern mit ähnlichen Gewohnheiten bekannt sein werden. Bei Akteuren, die die gleichen Einstiegsseiten verwenden, liegen die gleichen Verzweigungen in verbundene Sozialräume am nächsten. Die Wahrscheinlichkeit, im virtuellen Sozialraum miteinander in Kontakt zu kommen steigt in diesem Fall. Der Besuch anderer Sozialräume hingegen ist oft mit einer aufwendigen Suche verbunden.

All dies scheint die Idee, des Verschwindens von Distanzen zu beflügeln und in der Folge hat es die Phantasie zahlreicher Personen, Feuilletonisten aber auch Wissenschaftler angeregt. Hierzu lassen sich Dutzende von Zitaten anführen, schlaglichtartig sollen jedoch einige Beispiele genügen: Ulrich Beck etwa ist der Meinung, daß wir "in Zukunft Gemeinschaften ohne Orte und Orte ohne Gemeinschaften" haben werden (Vortrag in Frankfurt (1997)). Paul Virillio (1993: 139) sieht "das Raum- und Zeitintervall jeder Handlung auf ein Nichts reduziert." Joachim Bühl schreibt über die "Entkoppelung der Kommunikation vom Realraum" (Bühl 1997: 57). Metropolen verlören ihre Bedeutung (Rötzer 1995). Die neuen Medien böten Chancen für ehemals benachteiligte periphere Räume (Lob und Oel 1997). Eine Auflösung der Bedeutung konkreter Orte wird vorhergesagt, eine De-lokalisierung. "Die technische Utopie einer durch Telekommunikation dezentralisierten Gesellschaft bedeutet (..) vor allem eine Verräumlichung der Kommunikation, dergestalt, daß sie jedwede Lokalisierung unmöglich werden läßt und dadurch die Auflösung der Bindungen und der Orte, die die traditionelle Gemeinschaft über Symbole strukturierten, zum Ende bringt" Gérard Raulet (1988: 286).

Die Bindung von Raum und Zeit

Solche Einschätzungen gehen viel zu weit. Es wird nicht zu einer solch radikalen Entkoppelung von Raum und Zeit kommen, vielmehr bleibt Kommunikation an den Realraum immer rückgebunden, denn der Realraum besitzt noch weitere Funktionen, als nur nichtmedial vermittelte Kommunikation, also solche, die von Angesicht-zu-Angesicht erfolgt, zu ermöglichen.

Mindestens folgende drei Ebenen der Realraumbindung sind unauflösbar: 1. Eine logistische Ebene, 2. eine soziale Ebene und 3. eine zeitliche Ebene.

Die logistische Ebene der Verknüpfung bezieht sich vor allem auf Übergänge zwischen dem Datennetz und all dem was "Draußen" liegt. Hierunter sind Übergänge zwischen den im Computernetzwerk entstandenen Bezügen und solchen, die über nichtmedial vermittelte oder nicht vermittelbare Anknüpfungspunkte verfügen, zu verstehen. Bei diesem Argument sind nicht nur soziale Beziehungen gemeint, es trifft auch auf die Verbindung zwischen Gütern und Netz zu. Das Internet ermöglicht zwar die Informationsübertragung, beispielsweise eine Bestellung oder eine Vereinbarung, handelt es sich aber nicht um eine rein auf Informationen basierende Leistung, bleibt ihre Inanspruchnahme letztlich ortsbezogen. So bringt der Zugang zum Bibliothekskatalog per Internet das Buch noch nicht an den Schreibtisch und auch die Online-Pizza muß gebracht werden. Wenn die Pizza nicht kalt werden soll, macht dieses Beispiel sehr gut deutlich, wie meistenteils Internetdienste an den Realraum gebunden bleiben.

Eine Transportinfrastruktur, Versandsysteme und –logistik, der Abbau von Zollschranken, Wirtschaftsgemeinschaften, länderübergreifender Verbraucherschutz, all diese politischen Maßnahmen begünstigen zwar die Möglichkeit überregionaler Versorgung mit Gütern und verschaffen dem Verbraucher vielleicht eine größere Marktransparenz; um den Endabnehmer zu erreichen, müssen die Güter aber tatsächlich transportiert werden.

Zwar sind solche wirtschaftlichen Zusammenhänge, wie der Gütertransport als Beispiel dienlich, damit beschäftigen sich aber vor allem die Logistiker. Für diesen Beitrag, sind soziale Beziehungen wichtiger und diese sind mindestens genauso stark betroffen. Als Beispiel können "virtuelle Gemeinschaften" dienen. Oft geht es darum, daß sich die Teilnehmer persönlich treffen, etwa bei Channel-Parties (Seidler 1994). Hinsichtlich der Häufigkeit, der Form, aber auch der Möglichkeiten sich daraus entwickelnder weitergehender Beziehungen spielt der physische Raum eine nicht zu unterschätzende Rolle. So scheinen ortsbezogene, eine physische Lokalität explizit einbeziehende Chat-Kanäle von den Akteuren bevorzugt zu werden. Offenbar wird die Möglichkeit, des Übergangs zwischen medialen und nichtmedialen Treffen von den Teilnehmern durchaus bewußt in Erwägung gezogen.

Ähnliches gilt für den häufigen Fall, daß Veranstaltungen oder Tagungen über das Netz angekündigt werden. Neben dem ortsübergreifenden Informationsaspekt fokussieren Tagungsankündigungen das nichtmediale Treffen an einem bestimmten Ort zu einer festgelegten Zeit. Möglicherweise wird räumliche Trennung durch seine Aufhebung hinsichtlich der Übertragung bestimmter, nicht räumlich gebundener Informationen, aufgrund des Bewußtwerdens der Probleme der Überwindung von Realraum um so schmerzlicher erfahren. Damit könnte der Realraum in der Empfindung der Akteure sogar an Bedeutung gewinnen.

Für die hier diskutierten Zwecke ist aber der zweite Grenzbereich der Globalisierung weit wichtiger als die logistische Ebene: nämlich eine informatorisch-räumlich soziale Verknüpfung.

Wie bereits diskutiert, sind soziale Beziehungen in der Regel physikalisch räumlich rückgebundene Beziehungen. Diese Beziehungen lassen sich niemals vollständig auflösen, denn die Herkunft und damit die primäre Sozialisation bleibt immer an einen realen sozialen Ort gebunden. Die soziale Einbettung (Granovetter 1985) an einem konkreten Ort produziert vorgängig Regeln, generalisierte Verhaltenserwartungen, spezifische Werte, die Kultur, die für den Einzelnen Vertrautheit (Hondrich 1997) und Vertrauen herstellt. Mit solchen kultureigenen Normen sind aber auch typische Begrenzungen verbunden, welche die interkulturelle Kommunikation einschränken.

Von Alfred Schütz kann man lernen, daß gemeinsames typisiertes Wissen das eigene Verhalten steuert, aber auch die Erwartungen an das Verhalten der anderen bestimmt. Die Grenze dieses Wissens ist also gleichzeitig eine Grenze der Verständigung. Sofern dieses Wissen Fremde betrifft oder gar andere Kulturen ist es nur in einer sehr rudimentären Form vorhanden. Dies erhöht zwangsläufig die Wahrscheinlichkeit von Mißverständnissen. Sprachkenntnisse alleine überwinden diese Barriere jedenfalls nicht. So sind die Unterschiede zwischen dem Österreichischen und dem Deutschen ziemlich gering. Als ich beispielsweise in einem Grazer Buchgeschäft nach einem Krimi einer bestimmten Autorin fragte, wurde mir vom Buchhändler mitgeteilt, daß lediglich noch zwei Exemplare des "allerletzten" Titels an der Kasse verfügbar seien. Aufgrund meines unverständigen Gesichtsausdruckes, der eine Wiederholung, des Gesagten beim Verkäufer nach sich zog und dem eindeutigen Kontext jedoch konnte ich mir zusammenreimen, daß das zuletzt erschienene Buch gemeint war. Das "allerletzte" bedeutet (einschränkend zumindest in Frankfurt) abwertend etwa, so viel wie das Schlechteste. Textbasierte Kommunikation, die nur über einen begrenzten Zeichensatz verfügt, die nur schwach kontextualisiert ist, könnte in einem solchen Fall kaum für Aufklärung sorgen.

Solcherlei Hindernisse scheinen durchaus aus dem Wege zu räumen, zumal, die gemeinsame Verständigungsbasis relativ groß ist. In der Auseinandersetzung mit dem Werk Diltheys hat Max Weber (1980) etwa vier Ebenen des Verstehens fremder Handlungen beschrieben: eine traditionale, eine affektive, eine wertrationale und eine zweckrationale Ebene. Die affektive Ebene ist nur aus der Befindlichkeit des Individuums verstehbar; sehr starkes Kontextwissen ist erforderlich, um traditionales Handeln, aber auch wertrationales Handeln zu verstehen. Letzeres orientiert sich eher an "Geboten" oder "Forderungen", als an den vorauszusehenden Folgen. Am ehesten überindividuell nachvollziehbar scheint das zweckrationale Handeln zu sein. Was aber, wenn unterschiedliche Rationalitätssysteme existieren, Verstehen also auch hier an eine bestimmte Akkulturation gebunden bleibt?

Begrenzungen finden sich aber nicht nur hinsichtlich der Abstimmung von Verhaltensnormen – vielmehr ist auch die Themenauswahl begrenzt. Sowohl Anzahl, als auch Themeninhalte werden durch den Erfahrungshorizont der einzelnen Teilnehmer beschränkt. Man kann annehmen, daß nur ein relativ kleines Themensspektrum auf ungeteiltes weltweites Interesse stößt. Eine Folge davon ist, daß entgrenzter Austausch vor allem periphere Gebiete übergeht. Peripherie ist hierbei nicht etwa deckungsgleich mit dem, was etwa Wallerstein (zuerst 1974) in seiner Weltsystemtheorie als Zentrum und als Peripherie versteht, sondern das jeweilige Zentrum wird vom Thema und den zentralen Akteuren definiert. Wenn auf einer Tagung der Deutschen Gesellschaft für Soziologie etwa vom Ergebnis einer repräsentativen Befragung die Rede ist, wird heute kaum noch die Rückfrage kommen, ob Ostdeutschland einbezogen worden sei oder nicht. Unausgesprochen wird ohne weiteren Hinweis von einer für die deutsche Wohnbevölkerung gültigen Studie mit Befragten ab 14, 16 oder 18 Jahren die Rede sein. Implizit ist damit das Zentrum definiert - Außenstehende, etwa schweizer oder österreichische Tagungsteilnehmer können sich fragen, inwieweit diese Daten auch auf ihr Land betreffen, die Datengrundlage, die mit politischen Begrenzungen zusammenhängt (Grenzen der Finanzierung, oft aber auch der Reichweite der Erhebungsinstitute), schließt sie jedoch aus, sie werden damit zur Peripherie definiert. Anders auf einer österreichischen Tagung: selbst wenn die inhaltlichen Aspekte von übergreifendem Interesse sind, wird für die Veranschaulichung oft auf Beispiele, die den lokal(nationalen) Rahmen betreffen, zurückgegriffen. Zuhörer, die mit diesen Problemen nicht vertraut sind, verstehen dann die Veranschaulichung kaum. Dieser Aspekt von Verständigung führt zu einer auf das jeweilige Zentrum bezogenen Konzentration der Beiträge. Je stärker aber dieser Majoritätsbezug wird, um so gewichtiger wird das Zentrum. Dies wiederum wertet die Themen der Peripherie im Verhältnis zu denen des Zentrums ab. Ist die Peripherie nicht groß genug, um ein eigenes (möglicherweise Sub-)Zentrum herauszubilden, werden die von dort stammenden Teilnehmer ungleiche Chancen auf Beteiligung haben.

Der Zentrum-Peripherie Gegensatz ist neben der räumlich verwurzelten Kultur oft auch an spezielles Fachwissen gebunden. So wie die Internetanschlüsse weltweit sehr ungleich verteilt sind, ist auch das Wissen der Welt, besser ist vielleicht der Begriff wissenschaftliche Produktion, ungleich verteilt (Zahl der Nobelpreise nach Ländern; Zahl der wissenschaftlichen Zeitschriftenbeiträge nach Ländern usw.). In zahlreichen Internetforen wird aber auf spezifisches Wissen rekurriert, als drastisches Beispiel kann die IPNG-Mailingliste angeführt werden. Dort geht es um die Weiterentwicklung des Internetprotokolls. Eine Sozialforscherin brauchte etwa ein Jahr, um zu verstehen, worüber dort verhandelt wurde (Hofmann 1999).

Wenn die Herkunft, also Ethnizität gar selbst eine Bedeutung bekommt, beispielsweise bei der Nutzung des Internet für politische Aktionen von ethnischen Gruppen, auch dann ist Abgrenzung und Schließung schon dem Thema inhärent. Die Idee, es käme zu einem globalen Dorf, vernachlässigt genau jene kulturellen Identitäten. Oft verkommen diese in der mitteilbaren und dekontextualisierten Form zur bedeutungslosen Folklore oder diese werden als vormodern interpretiert wie Nils Zurawski (1998) gezeigt hat.

In der Peripherie findet sich keine kritische Masse (Markus 1987), die genügend Anreize fände unter sich zu kommunizieren. Eine Vielzahl der Weltmetropolen teilt hingegen zumindest minimale kulturelle Maßstäbe und es findet ein kultureller und wirtschaftlicher Austausch statt. Aber selbst dort sind Ausschlüsse durch Themendominierung an der Tagesordnung.

Ein weiteres Problem hinsichtlich interkulturellen Verstehens sind unterschiedliche in den Kulturen ausgeprägte Denkstrukturen, die durch Symbolsysteme repräsentiert werden. Dies trifft nicht nur auf die Verfolgung von Zauberern in Westafrika zu, sofern sie in dem Ruch stehen, die Geschlechtsorgane ihrer Mitmenschen zum Verschwinden zu bringen (o.A. Daily Graphic 1997); es sind ferner und vielleicht noch einsichtiger uns bekannte Symbole betroffen. Diese werden auf eine völlig andere Weise interpretiert, als von ihrem Ursprung aus zu erwarten gewesen wäre. Wenn man in Moskau beispielsweise schick ausgehen will, geht man angeblich zu McDonalds (Klaus 1998); in den USA dagegen wird wohl die Schnellrestaurantkette - zumindest von Feinschmeckern eher gemieden.

Zwar verschwinden bei zahlreichen Formen der Kommunikation im Internet askriptive Merkmale und damit strukturierende Vorurteile. Es verschwindet aber auch derjenige Teil des Kontextes, der Verstehen jenseits von Stereotypen und Vorurteilen erst ermöglicht. Solcherlei Verständigungsprobleme können als soziale Hemmnisse grenzenloser Kommunikation aufgefaßt werden.

Damit soll nicht behauptet werden, daß Verständigung nicht möglich wäre. Oft sind aber langwierige Prozesse des voneinander Lernens notwendig, um die Gedanken und das Handeln des Anderen nachvollziehen zu können. Zudem werden in den Überlegungen zur physisch entgrenzten Kommunikation die im physisch-sozialräumlich gebundenen Alltag als selbstverständlich genommenen Kontexte ignoriert. In der Folge bleiben fehlerhafte Interpretationen fast unvermeidlich. Trotz dieser Einschränkungen, finden sich immer wieder Beispiele, in denen solcherlei Grenzen überwunden werden konnten. Eine solche Grenzüberschreitung zieht aber Kommunikationsprozesse zusätzlich in die Länge.

Dies führt zur Überleitung zur dritten, zunächst paradox erscheinenden Ebene: Obgleich Zeit für die Übertragung von Kommunikationssequenzen praktisch keine Rolle mehr spielt, findet sich eine sehr starke Verlangsamung von sozialen Prozessen, sofern sie über textbasierte Medien erfolgen.

Zwar können Distanzen durch das Medium überbrückt werden, dennoch begrenzt die Beschränkung auf schriftliche Kommunikation die Mitteilungsfähigkeit. Technisch bedingt (durch die Begrenzung der Kanäle), scheint es im Internet problematischer, eine für andere wahrnehmbare Identität herauszubilden. Nach einer Untersuchung von Walther und Burgoon (1992: 58) dauert das Kennenlernen in internetbasierten Sozialräumen länger als in Situationen mit persönlichem Kontakt. Insofern ist die Zeit zwar hinsichtlich der Überwindung einer Strecke für die Kommunikationssequenzen aufgehoben; der Beziehungsaufbau hingegen scheint sehr stark verlangsamt zu sein. Anders gewendet: Zeit bekommt hinsichtlich des Aufbaus sozialer Beziehungen als restriktiver Faktor eine stärkere Bedeutung. Auch Experimente mit computergestützter Kommunikation, bei denen das Lösen von Aufgaben simuliert wurde, bestätigen das von Walther und Borgoon gefundene Ergebnis. Sofern überhaupt Ergebnisse erzielt wurden, brauchten die Probanden wesentlich mehr Zeit bis zu einer brauchbaren Lösung (Sproull/Kiesler 1991).

Man könnte sogar folgendes behaupten: Das Verschwinden des Raumes steht in einem konkreten Verhältnis zur Dehnung der Zeit, die für das Abhandeln von Problemen in der Gruppe benötigt wird. D.h. zwar verschwindet tendenziell die zur Übermittlung von Nachrichten benötigte Zeit und damit auch die Entfernung - dennoch braucht das Entstehen von Beziehungen wesentlich länger als wenn die Beteiligten sich an einem Orte versammeln würden.

Die Ursache für die Verlangsamung liegt vor allem an der Notwendigkeit der Sequentialisierung desjenigen Teils der Kommunikation, der ansonsten über andere Kanäle quasi nebenbei übermittelt wird. Das "Wo" und das "Wie" von medial nicht vermittelter Kommunikation erklärt zudem bereits eine Menge mehr, als in der relativ standardisierten Kommunikationssituation der Internetmedien mitgeteilt werden kann.

Neben dieser Verlängerung des Entstehens von Beziehungen, bleibt eine weitere auch durch technische Maßnahmen unhintergehbare Funktion von Zeitabläufen auch im Internet gültig. Beziehungen zwischen Personen untereinander und Aggregaten von Personen unterliegen einer Geschichte. Dies meint eine Entwicklung, die nicht nur den Prozeß des Kennenlernens einschließt, sondern den gesamten gemeinschaftlich erlebten Zeitraum. Beziehungen lassen sich qualifizieren. Sie können sehr vereinfacht in positiver, neutraler und negativer Weise betrachtet werden. Verknüpft man solch einfache Qualifizierungen mit einer Transitivitätshypothese, erhält man einen Hinweis auf das Entstehen von "Mustern sozialer Ordnung" (Schweizer 1996). Die "Balance Theorie" (z.B. Davis/Leinhardt 1972; Davis 1977) etwa, baut auf diese Beziehungsmerkmale auf und entwickelt daraus Hypothesen über die Strukturierung von sozialen Gruppen.

Grundvoraussetzung für die Wirksamkeit solcher Annahmen sind jedoch relativ enge Beziehungen. Zumindest sollten diese so eng sein, daß Identitäten in ihrem Beziehungsmuster zu anderen Akteuren für Zuschauer wahrnehmbar werden. Beides setzt eine relativ hohe Beteiligungsfrequenz über einen längeren Zeitraum voraus. So betrachtet, kann das "Kennenlernen" als erster Schritt hin zur Ausprägung einer für die Teilnehmer wahrnehmbaren Beziehungsstruktur angesehen werden. Nach unseren Beobachtungen (Stegbauer/Rausch 1999) wird die notwendige Beziehungsdichte und Permanenz in der Anwesenheit nur von wenigen innerhalb eines gesamten Kommunikationsraumes erreicht. Bei der Mehrzahl der Kontakte handelt es sich gerade einmal um sog. "weak ties" (Granovetter 1973). Nicht nur hinsichtlich der Anbahnung von Beziehungen, auch auf der Ebene der Gruppenstruktur, kann der geschichtliche Aspekt, die Zeit, die nötig ist, um Beziehungen transparent zu machen und Reaktionen die darauf durch die Akteure hervorgerufen werden und die ihrerseits reflexiv die Bezugsstruktur dann weiterentwickeln nicht durch technische Maßnahmen ausgeschaltet werden.

Die hier aufgezeigten Grenzen beziehen sich auf ein Szenario, bei dem alle gleichberechtigten Zugang zu den Medien besitzen. Aber selbst dies ist nicht der Fall. Die schnellen Datennetze werden vor allem innerhalb und zwischen den Weltmetropolen aufgebaut. In Afrika findet sich beispielsweise nur eine geringere lokale Infrastruktur im Internet. Das bedeutet, daß lokale soziale und logistische Anknüpfungspunkte nur spärlich zu finden sind – und das zu horrenden Telekommunikationskosten. Eine Handyminute kostet in Kamerun beispielsweise bis zu 20 Dollar.

Anhand der drei vorgestellten Ebenen läßt sich zeigen, daß Raum und Zeit ihre Bedeutung behalten. Zwar ist ihre Aufhebung hinsichtlich der Übertragung von Kommunikation technisch möglich, aber dadurch lassen sich noch nicht die anderen Formen der Rückbindung aufheben. Einige dieser Verknüpfungen sind auch durch noch so ausgefeilte Technik nicht auszuschalten. Insbesondere sozio-kulturelle Barrieren lassen sich bestenfalls partiell überwinden, und dies wird die Globalisierungstendenzen auch in Zukunft beschränken.

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